Stillberatung von Aktion gegen den Hunger: Eine Mitarbeiterin zeigt stillenden Müttern, wie sie ihre Babys am besten mit Muttermilch versorgen.

Interview mit Stillberaterin: „Solange Nestlé tun und lassen kann, was es will, wird es das tun“

Wir haben mit der Stillexpertin Utta Reich-Schottky gesprochen: über unsere Kampagne gegen Nestlé, unethische Babymilchwerbung und darüber, was passieren müsste, um das Stillen wirklich zu fördern. Sie ist seit über 40 Jahren in der Stillberatung und Stillbegleitung tätig, unter anderem beim DAIS – Deutsches Ausbildungsinstitut für Stillbegleitung und für die Nationale Stillförderung.

Frau Reich-Schottky, könnten Sie uns zu Beginn einmal erklären: Was ist denn so problematisch an Werbung für Babymilch? 

Zunächst möchte ich einen Schritt zurückgehen und klarstellen: Mütter müssen ihre Kinder ernähren können. Das heißt, wenn Muttermilchersatznahrung gebraucht wird, muss sie verfügbar sein. Das ist mir ganz wichtig. 

Der andere Aspekt ist: Wie wird diese Nahrung vermarktet? Zurzeit wird sie in so unethischer Weise vermarktet, dass die informierte Entscheidung der Eltern dadurch unterwandert wird. Das ist das Problem: Frauen, die stillen wollen und auch stillen könnten, werden auf verschiedenen Ebenen daran gehindert. Eine Befragung hat gezeigt: Von den Frauen, die kürzer als vier Monate gestillt haben, sagten 80 Prozent, sie hätten gern länger gestillt.1 Und da stimmt was nicht. 

„Zurzeit wird Babymilch in so unethischer Weise vermarktet, dass die informierte Entscheidung der Eltern dadurch unterwandert wird.“

Portrait Utta Reich-Schottky
Utta Reich-Schottky, Stillberaterin

Babymilchpulver ist gar nicht so einfach anzuwenden – zum Beispiel, wenn es keine sichere Wasserversorgung gibt. Was ist da das Problem? 

Wenn die Lebensverhältnisse schwierig sind, kann die Versorgung mit Säuglingsnahrung sehr herausfordernd sein: zum Beispiel, wenn kein sauberes Wasser in ausreichender Menge zur Verfügung steht, wenn Lieferketten unterbrochen sind oder in Kriegs- und Krisensituationen.  

Um ein nicht gestilltes Kind mit Nahrung zu versorgen, brauche ich die Spezialnahrung, die Utensilien und eine präzise Anleitung, wie das Pulver angerührt werden soll. Das heißt, ich brauche eine Gebrauchsanleitung in einer Sprache, die die Eltern verstehen – das ist leider nicht überall gegeben. Ich brauche pro Tag mindestens drei Liter sauberes Wasser plus Energie, um es zu erhitzen. Beim Stillen dagegen braucht die Mutter einen Liter Wasser, um die Milch bereitzustellen und viel weniger Energie. Die Muttermilch kann sie auch, ich sage mal, nur mit Bohnen und Kartoffeln bilden. 

Obwohl es schon seit über 40 Jahren den WHO-Kodex gibt, der Werbung für Babymilch verbietet, vermarkten große Konzerne ihre Produkte auf der ganzen Welt. Wie funktioniert die Werbung dieser Konzerne? Welche Rolle spielt das digitale Marketing? 

Das digitale Marketing ist eine recht neue Entwicklung und erleichtert den Firmen den gezielten Zugriff auf die Kundinnen. In dem Augenblick, in dem eine Frau in eine Suchmaschine den Begriff „Schwangerschaftstest“ eingibt, ist sie im Visier der Konzerne. Ihre Daten werden gesammelt, sie erhält gezielte phasengenaue Werbung, ohne das unbedingt bewusst zu bemerken. Dieses digitale Marketing wird immer stärker ausgebaut und ist für die Firmen natürlich viel kostengünstiger als Print und andere Werbung.  

Wenn Eltern nachts um drei die Suchmaschine anwerfen, weil das Baby einfach nicht aufhört zu weinen, landen sie sehr schnell auf einer Seite der Babynahrungsindustrie. Und wenn eine Mutter übermüdet ist, dann ist das, was die Firmen anbieten, natürlich ein Strohhalm, an den sie sich klammert. Die Kehrseite ist, dass sie nachts um drei eher selten eine Hebamme oder eine Stillberaterin erreichen kann, und auch zu anderen Zeiten nicht unbedingt. Da sind auch einfach Lücken in der Versorgungsstruktur. 

Beba-Folgemilchwerbung in einem Post des Nestlé-Babyclubs – ein Verstoß gegen den Milchkodex der WHO!
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Utta Reich-Schottky: „Ganz besonders frech finde ich, dass sie hier die Unterstützung des Immunsystems anpreisen. In einer anderen Werbung von Nestlé heißt es sogar „unsere Immunengel“, weil im Pulver drei Vitamine enthalten sind. Ganz klein schreiben sie dazu: „lt. Gesetz“. Nestlé wirbt also hier damit, dass sie sich an das Gesetz halten. Wow.“ 

Lassen Sie uns gemeinsam einen Social Media Post von Nestlé anschauen, um herauszuarbeiten: Wie kommunizieren Unternehmen mit Müttern, durch welche Schlüsselbegriffe und welche Strategien werden ihre Produkte den Frauen nähergebracht? 

Das Erste ist: In Europa verbieten die Regulierungen Werbung für Säuglingsanfangsnahrung. Das ist aber für die Firmen überhaupt kein Problem. Die Firmen werben im Grunde nicht für einzelne Produkte. Die Firmen sehen primär zu, dass sie eine Beziehung aufbauen. Hier in diesem Post zum Beispiel: „Du gibst alles für dein Baby. Und wir auch.“  

Sie haben Beratungshotlines, sie bieten Informationen rund um das ganze Thema Stillen und Babyernährung an und sie stellen sich immer als zuverlässiger Partner dar. Sie verkaufen keine Produkte, sie verkaufen Lösungen für Probleme. Das ist die zentrale Werbestrategie.  

Das Zweite ist: Hier sieht man das Nestlé-Logo und diese Dose der BEBA-Folgemilch 2 [Anm. d. Red.: Für Kinder ab 6 Monaten] – die wird dem Bild nach hier beworben. Aber die Aufmachung unterscheidet sich nur in der kleinen Nummer unten auf der Dose von den anderen Milchsorten [Anm. d. Red.: für kleinere Säuglinge]. Ein englischer Forscher nennt das Musketierwerbung: „Einer für alle, alle für einen“. So funktioniert die Werbung.  

Damit wird natürlich elegant die Werbebeschränkung für Anfangsmilch umgangen. Zudem sind laut Kinderärzten diese ganzen Folgemilchen ernährungsphysiologisch unnötig. Hinzu kommt, dass die Folgenahrung nicht gleichwertig mit einer Anfangsnahrung ist, aber in der Regel preisgünstiger. Das kann dazu führen, dass Eltern diese minimalen Unterschiede nicht wahrnehmen und zu einem günstigeren Produkt greifen, wenn sie knapp bei Kasse sind. Das birgt das Risiko für Fehlernährung. 

Der dritte Punkt zu dieser Werbung: Nestlé gibt an, es setze sich „täglich dafür ein, das Wunder Muttermilch zu entschlüsseln“ und das Produkt enthielte „einzigartige HMO Bausteine, die in dieser Form nur in der Muttermilch vorkommen“. Hier wird suggeriert, dass dieses Produkt praktisch gleichwertig der Muttermilch sei. Das ist in jeglicher Hinsicht unsinnig. Ein Beispiel: Der einzigartige HMO-Bausteinekomplex [Anm. d. Red.: Humane Milch-Oligosaccharide sind in der Muttermilch enthaltene Zuckerstoffe, die wichtig sind für das Mikrobiom und die Entwicklung des Kindes] umfasst in der Muttermilch ungefähr 200 verschiedene. Und sie werben jetzt damit, dass sie fünf davon haben. 

Nestlé hat sich seit Januar 2023 verpflichtet, keine Werbung mehr für Babymilch-Produkte für Babys unter 6 Monaten zu machen und verkauft das als großen Schritt in Richtung Umsetzung des WHO-Kodex – ist das ein Schritt in die richtige Richtung?  

Das Eine: In der EU und vielen anderen Ländern sind inzwischen Regelungen umgesetzt, dass für Anfangsmilch nicht mehr geworben werden darf.  Es sind also sowieso nur noch wenige Länder weltweit, in denen das überhaupt zulässig ist. Das heißt also, dass Nestlé für die meisten Länder der Welt verkündet, dass sie bereit sind, sich in diesem Punkt an das Gesetz zu halten. Wünschenswert.  

Das Andere ist, dass durch die große Ähnlichkeit von Anfangsnahrung und Folgenahrung dieser Schritt in der Wirkung auf die Mütter praktisch nichts bringt. In Großbritannien wurden Mütter befragt. Auch dort darf Babynahrung erst ab 6 Monaten beworben werden. Die Mütter hatten im Fernsehen Werbung für Folgemilch gesehen, doch in der Befragung waren zwei Drittel der Mütter der Meinung, Werbung für Anfangsmilch gesehen zu haben!2 

Das heißt: Dieser Schritt ist eher eine PR-Maßnahme, die Nestlé gut aussehen lässt, aber seinen Verkaufsinteressen nicht schadet. 

Ein großer Teil der Einflussnahme von Großkonzernen passiert hinter verschlossenen Türen: Sponsoring von Informationsveranstaltungen, Finanzierung von medizinischer Forschung und Fortbildungen für Gesundheitspersonal. Was können Sie uns über Interessenskonflikte im Gesundheitssystem erzählen?  

Einmal gibt es da die direkte Einflussnahme auf der politischen Ebene. Das kennen wir insgesamt von der Nahrungsindustrie, dass da ganz viel Lobbyarbeit betrieben wird und dass auch in wichtigen Gremien entweder Firmenvertreter dabei sind oder von ihnen bezahlte Meinungsführer*innen oder Wissenschaftler*innen.  

In Gremien wie der Nationalen Stillkommission oder dem wissenschaftlichen Beirat von „Gesund ins Leben“, wo Empfehlungen beschlossen werden, sind leider Personen mit recht engen Verbindungen zur Babynahrungsindustrie tätig. Sie bekommen von dort Honorare, Forschungsgelder und werden insgesamt großzügig unterstützt. Der Industrie stehen pro Jahr über den Daumen gepeilt weltweit 7 bis 10 Milliarden Euro nur für die Werbung für Muttermilchersatznahrung zur Verfügung. 

Die Industrie setzt auch direkt im Gesundheitssystem an, sie unterstützt beispielsweise Berufsverbände. Bei der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendmedizin zum Beispiel sind Babynahrungsfirmen Fördermitglieder. Sie bezahlen und nehmen damit Einfluss.  

Außerdem bieten Milupa, Nestlé und Co. kostenlose oder kostengünstige Fortbildungen an, die auch offiziell für Fortbildungspunkte für Gesundheitspersonal anerkannt werden. Hier zeigt sich ein strukturelles Problem: In der Ausbildung von Ärzten kommt Stillen überhaupt nicht vor – die Firmen schließen diese Lücke. 

Hebammen erhalten bei diesen Fortbildungen gleich noch große Koffer und Arbeitsmaterialien. Zum Beispiel Bögen mit Rückbildungsübungen, die sie an die Mütter austeilen können, wo unten auf dem Zettel der Name der Firma steht. Hebammenpraxen und kinderärztliche Praxen werden geflutet mit Geschenken von Babynahrungsfirmen, die sie an Mütter weitergeben sollen. 

Mit dem Austeilen solcher Geschenke sendet das Gesundheitspersonal eine doppelte Botschaft: nämlich, „Stillen ist toll und wichtig“ und gleichzeitig „diese Firma ist gut“. Das ist ein großer Bereich der Werbung. Dass damit Interessenkonflikte beim Gesundheitspersonal erzeugt werden, wird oft nicht als Problem wahrgenommen. 

Sie sind Stillexpertin und -beraterin. Ist Ihnen das auch passiert in Ihrer Laufbahn, dass Sie aus der Industrie Geschenke oder Angebote bekommen haben? 

Ja, durchaus. Ich habe Newsletter bekommen, in denen mir kostenlose Probenpakete angeboten wurden. Auf Kongressen wurde mir am Stand alles Mögliche angeboten. Als ich einmal Referentin auf einem medizinischen Kongress war, habe ich meine Teilnehmerunterlagen in einem Leinenbeutel bekommen, auf dem dick ein Firmenname draufstand, alle bekamen den. Als am Ende des Kongresses alle aus dem Gebäude hinaus und in die U-Bahn-Station liefen, war die U-Bahn-Station plötzlich geflutet mit diesen Leinenbeuteln mit dem Firmennamen. Eine tolle Werbe-Möglichkeit für diese Firma.  

Infografik in Form einer Hand mit Text in allen fünf Fingern mit Infos zum Stillen: Eine Handvoll Wissen
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Eine gute Stillberatung ist wichtig, um Eltern gut zu informieren und bei Bedarf zu unterstützen. Utta Reich-Schottky verwendet dabei die „Stillwissenhand“ der Nationalen Stillförderung.

Muttermilch ist kostenlos – und somit unwirtschaftlich. Können Sie mehr dazu sagen?  

Wenn man sich die Ernährung von Säuglingen und Kindern anguckt, von ganz klein bis zu zwei Jahren, dann wird ein großer Teil dieser Ernährung von Frauen bereitgestellt. Sie treten aber nicht als „Nahrungsmittelproduzentinnen“ in Erscheinung. Die Wirtschaftsförderung geht immer nur an die Babynahrungsindustrie. 

Dabei lässt sich mit einer in Australien entwickelten Methode ausrechnen, dass Frauen in Deutschland zurzeit jedes Jahr 21 Millionen Liter Muttermilch bereitstellen. Bei einer angemessenen Stillförderung könnten es sogar über 50 Millionen Liter sein.3 Das ist eine messbare Menge, die bei unserer Nahrungsmittelproduktion überhaupt nicht erfasst wird. Wenn man das jetzt mal wirtschaftlich betrachtet, haben wir die absurde Situation, dass es momentan so aussieht, als würde das BIP und damit der Wohlstand steigen, wenn mehr Muttermilchersatznahrung hergestellt wird und würde sinken, wenn Frauen mehr stillen. 

Was müsste konkret passieren, damit der WHO-Kodex international gesetzlich verankert wird? Was kann die deutsche Politik dafür tun?  

Die WHO Europa hat letztes Jahr einen Gesetzentwurf herausgebracht, speziell für Europa, weil hier ja vieles auf EU-Ebene geregelt wird und nicht auf Länderebene.4 Da geht es konkret darum, wie kann der Kodex in Europa umgesetzt werden. Diesen Gesetzentwurf sollte man jetzt in die Hand nehmen und für die Umsetzung plädieren.  

Erstmal muss dieser Gesetzentwurf überhaupt bekannt gemacht und das Thema auf die Agenda gesetzt werden. Er ist ein guter Ansatzpunkt, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es nötig ist, diesen Bereich zu regulieren.  

Denn wir brauchen Regeln, die für alle gelten. Eine Firma, die nicht unethisch wirbt, wird aktuell nicht wahrgenommen. Erst, wenn die Werbung für alle verboten ist und das Verbot auch durchgesetzt wird, dann haben andere Firmen eine Chance. Deswegen brauchen wir eine strikte Umsetzung des WHO-Kodex sowohl zum Schutz der Familien als auch zum Schutz derjenigen Firmen, die jetzt vielleicht in einer Nische ethisches Verhalten zeigen. 

Vielen Dank für das interessante Gespräch! 

Utta Reich-Schottky fordert 5 politische Maßnahmen, um das Stillen zu fördern: 

  1. Ressourcenverteilung: Mütter und Kinder müssen im Gesundheitssystem stärker priorisiert werden. Viele Bereiche wie die Geburtshilfe, Hebammenversorgung, Stillunterstützung und die Kinderkliniken sind stark unterfinanziert und völlig überlastet.  

  1. Ausbildung des Gesundheitspersonals: Das aktuelle Wissen zum Stillen muss in der Aus- und Weiterbildung aller Berufsgruppen (Hebammen, Ärzt*innen, Pflegepersonal) verankert und durch unabhängige Fortbildungen vermittelt werden. 

  1. Stillförderliche Strukturen im Gesundheits- und Wirtschaftssystem schaffen: Dazu gehören bspw. die Unterstützung und Ausweitung der Initiative Babyfreundlich von WHO und UNICEF auf alle Geburts- und Kinderkliniken und die Umsetzung des Mutterschutzgesetzes in Bezug auf das Weiterstillen im Beruf. 

  1. Die Politik muss dringend verbindliche Regeln schaffen, um Interessenkonflikte zu vermeiden: keine Besetzung von offiziellen Gremien mit von der Industrie finanzierten Wissenschaftler*innen, keine Finanzierung von offiziellen Fortbildungen durch die Babynahrungsindustrie, keine Geschenke und Werbematerial für Ärzt*innen und Hebammen. 

  1. Vollständige Umsetzung des WHO-Kodex in Europa: Der Gesetzentwurf der WHO Europa muss auf EU-Ebene – und nachgelagert auch auf den nationalen Ebenen – umgesetzt werden. 

Quellen und weiterführende Infos

23. FEBRUAR 2023
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