
Seit der Machtübernahme durch die Taliban im Jahr 2021 hat sich die Situation in Afghanistan besonders für Frauen massiv verschlechtert. Der anhaltende Krieg und die immer wieder auftretenden Naturkatastrophen hinterlassen aber auch bei den Männern sichtbare Spuren. Doch viele Wunden sind unsichtbar. Vertreibungen, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise führen bei der Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu psychischen Belastungen.
Eine landesweite Studie zur Situation der psychischen Gesundheit in Afghanistan (2018) zeigt ein hohes Maß an psychischen Problemen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass mehr als 2 Millionen Menschen in Afghanistan an depressiven und Angststörungen leiden. Die tatsächlichen Zahlen sind jedoch wahrscheinlich viel höher (Gallup-Studie).
Kostenlose Hotline gegen das Schweigen
Im Juni 2022 richtete Aktion gegen den Hunger eine kostenlose Hotline für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung (MHPSS) in Afghanistan ein. Das Hotline-Team besteht aus Rezeptionist*innen sowie derzeit sieben weiblichen und sechs männlichen ausgebildeten Psycholog*innen. Sie sind geschult in Problemlösung, Online-Beratung sowie psychischer Gesundheit und psychosozialer Unterstützung in Notfällen, einschließlich der Minderung des Suizidrisikos.
Mittlerweile hat sich die Hotline in ganz Afghanistan etabliert. Bereits mehr als 5.000 Menschen haben sich hier Hilfe gesucht – völlig anonym und kostenlos. Im Schnitt sprechen die Psychologinnen und Psychologen rund fünf mal mit den einzelnen Personen.
Unsere Kolleginnen Karina Lehmann und Anja Kotzlowski haben die Einrichtung in Kabul im November 2025 besuchen können. Karina Lehmann berichtet im Interview:
„Männer bringen Frauen zum Schweigen“
Mina ist eine von elf Beraterinnen und Beratern, die den Menschen in Afghanistan telefonisch und seelisch zur Seite steht in diesen schwierigen Zeiten. „Das Psychologiestudium war die Wahl meiner Familie,“ erinnert sich sie sich. Ursprünglich wollte sie Bauingenieurwesen studieren. Ermutigt durch ihren Vater, der Lehrer ist, entschloss sich Mina dann doch im psychosozialen Bereich zu arbeiten, vor allem, um anderen Menschen helfen zu können. In Kabul und Herat war Mina fünf Jahre lang als Beraterin in einem Krankenhaus tätig. Zudem arbeitete sie als Beraterin für eine kleine Basisorganisation (Graswurzel-Organisation), die den Frauen durch Schneiderei und Teppichweberei zu Empowerment/Selbstbefähigung verhalf.
Nach Minas Erfahrung sind vor allem wirtschaftliche Probleme ein Grund, warum Frauen die Hotline anrufen.
Sobald es den Betroffenen leichtfällt, ihre Gefühle auszudrücken und ihre Geschichten offen zu erzählen, spürt Mina, dass sie die Menschen wirklich unterstützen kann mit ihrer Arbeit. Die Beratungsgespräche können zuweilen sehr belastend sein. Um mit ihren Gefühlen besser umgehen zu können und sich zu schützen, führt Mina ein Tagebuch und zeichnet. Mit ihrem jüngeren Bruder übt sie auch Ringen – dadurch verschwinden ihre schlechten Gefühle.

Tamana im Gespräch mit ihrer Kollegin Bas Bibi: Die Frauen geben sich nach den oft schwierigen Gesprächen gegenseitig Halt.
Frauen fällt es leichter anzurufen
Beraterin Tamana erinnert sich an eine Patientin, die sehr niedergeschlagen war, als sie anrief und 15 Minuten lang weinte. „Sie wollte eine Ausbildung machen und ihr Studium fortsetzen, aber leider gab es keine Chancen mehr für sie.” Tamana empfahl der Frau, zu Hause mit dem Lernen zu beginnen und nach einiger Zeit bekam sie ein Stipendium in der Türkei. „Nach der Zulassung rief mich die Frau zurück, um mir diese Nachricht mitzuteilen! Ich habe mich sehr für sie gefreut. Dies ist eine der Geschichten, auf die ich sehr stolz bin.”
Auch Männer nutzen die kostenlose Hotline
Zu Beginn hatten mehrheitlich Frauen den kostenlosen Dienst genutzt, doch mittlerweile besteht fast ein Gleichgewicht unter den Anrufenden. „Männer sind in Bezug auf psychische Themen mit einem Stigma konfrontiert und ihnen wird [von der Gesellschaft, den Verwandten und der Familie] gesagt, dass sie ihre Probleme nicht teilen/offenbaren sollen,” berichtet Zabihullah, Berater für die männlichen Anrufer. „Die Hotline ermöglicht es ihnen, mit einem Psychologen zu sprechen, ohne Barrieren oder Angst davor, gesehen oder gar verurteilt zu werden.”
Finanziert wird das Projekt unter anderem vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), aber auch Privatspenden machen Projekte wie dieses möglich. Denn Hunger hat auch immer einen psychologischen Aspekt. Wer unter mentalen Problemen leidet, hat es oft schwerer, sich und seine Familie zu ernähren. Der Hunger wiederum schürt psychische Probleme – ein Teufelskreis entsteht. Jede Spende fließt daher entweder direkt oder indirekt in unsere Arbeit gegen den Hunger. Denn Hunger ist ein vollumfängliches Problem – aber ein vermeidbares.

