
Trotz invasiver Arten und kaum Ressourcen: Wie eine syrische Gemeinde mit einfachen Mitteln ihre Lebensmittelproduktion wieder aufbaut.
Ibrahim, ein 45-jähriger Landwirt und Viehzüchter, ist Vater von vier Kindern und lebt in einem Dorf in der Provinz Aleppo. Wie viele andere in seiner Gemeinde steht er nach dem langjährigen Konflikt in Syrien vor großen Herausforderungen.
Syrien hatte einst einen starken Agrarsektor und war Nettoexporteur von Agrarprodukten, doch im Laufe des 14-jährigen Konflikts sind die Ernährungssysteme des Landes zusammengebrochen. Die Kosten der kriegsbedingten Schäden wurden von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation bereits nach nur sechs Jahren Konflikt auf 16 Milliarden US-Dollar (etwa 13,7 Milliarden Euro) geschätzt. Jetzt kämpfen die Bauern*Bäuerinnen darum, den Nahrungsbedarf ihrer eigenen Familien zu decken, geschweige denn genügend Lebensmittel für das Land oder darüber hinaus bereitzustellen.
„Wir haben viele der Vermögenswerte verloren, auf die wir einst für unseren Lebensunterhalt angewiesen waren“, sagt Ibrahim. „Wir haben auch Schwierigkeiten, uns die landwirtschaftlichen Betriebsmittel zu leisten, die wir benötigen, um unsere Aktivitäten wie zuvor wieder aufzunehmen, wie Düngemittel, Saatgut und Tierfutter. Das hat uns gezwungen, einen Teil unserer Schafe zu verkaufen und einen großen Teil unserer Ackerflächen brach liegen zu lassen.“
Tausende von Bauern*Bäuerinnen haben daraufhin ihr Land verlassen, entweder um dem Konflikt selbst zu entkommen oder weil die Unterhaltskosten zu hoch geworden sind. Mit weniger Bauern*Bäuerinnen ist die Verfügbarkeit von Lebensmitteln zurückgegangen und die Preise für die verfügbaren Produkte sind in die Höhe geschossen, sodass Familien Schwierigkeiten haben, sich mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen. Der Food Security Cluster prognostiziert, dass in diesem Jahr 9,1 Millionen Menschen in Syrien von Ernährungsunsicherheit betroffen sein werden, womit das Land weltweit an sechster Stelle der Länder mit der größten Ernährungsunsicherheit steht.
Insgesamt hat der Agrarsektor in den vergangenen 14 Jahren enorm gelitten. Ohne die Werkzeuge, Ressourcen oder Netzwerke, auf die sie sich einst verlassen konnten, sehen die Landwirte – und alle, die Teil des syrischen Ernährungssystems sind – einer düsteren Zukunft entgegen.
Die stille Ausbreitung des Riesenschilfs
Während die Bauern*Bäuerinnen von ihren Feldern vertrieben wurden oder aufgrund begrenzter Ressourcen nicht angemessen reagieren konnten, hat sich eine invasive Art namens Riesenschilf wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Laut Wissenschaftler*innen sind invasive Arten eine der größten Bedrohungen für die Artenvielfalt mit langfristigen Auswirkungen auf die Ernten in der Region. Riesenschilf wächst extrem schnell und verdrängen einheimische Pflanzenarten. Die daraus resultierenden Schäden für die Bestäuberpopulationen und das lokale Ökosystem haben die Anbaubedingungen stark beeinträchtigt.

Das invasive Riesenschilf wächst schnell und schädigt den Boden und die Infrastruktur in Syrien.
„Darüber hinaus hat die Ausbreitung invasiver Pflanzen die landwirtschaftliche Entwässerung blockiert und den Salzgehalt des Bodens erhöht, wodurch das Land unbrauchbar geworden ist“, berichtet Ibrahim. Riesenschilf wächst am besten in der Nähe von Wasser und hat wichtige Bewässerungsinfrastrukturen auf den Feldern vieler syrischer Bauern*Bäuerinnen beschädigt. Sie können dadurch den Wasserfluss auf ihren Feldern nicht kontrollieren, mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die Bodengesundheit, was zu geringeren Ernteerträgen und einer Verschlechterung der Ernährungsunsicherheit führt.
Die Ausbreitung des invasiven Riesenschilfs in Syrien zeigt, wie ein Schock, wie beispielsweise ein Konflikt, eine Kettenreaktion von Problemen auslöst, die den Hunger verschärfen. Ernährungssysteme sind fragil. Sie beruhen auf einer komplexen Reihe von Faktoren, die den Weg der Lebensmittel von den Erzeuger*innen zu den Verbraucher*innen ermöglichen. Ist dieses System einmal beschädigt, ist es schwierig, es wieder aufzubauen.
Weg zur Erneuerung
Aktion gegen den Hunger startete ein Programm zur Unterstützung der Bauern*Bäuerinnen in Ibrahims Dorf. Für die Intervention wurden drei Hauptziele festgelegt:
- Reparatur des defekten Bewässerungssystems
- Senkung der Kosten für landwirtschaftliche Betriebsmittel
- Entwicklung eines nachhaltigen, gemeinschaftlichen Ansatzes zur Bewältigung langfristiger Herausforderungen
Das erste Ziel war klar. Die Mitarbeitenden von Aktion gegen den Hunger arbeiteten gemeinsam mit den Gemeindemitgliedern daran, die landwirtschaftlichen Entwässerungskanäle zu reinigen, die durch das übermäßige Wachstum von Riesenschilf verstopft waren. Auf diese Weise konnte das Wasser wieder fließen und der versalzene Boden wieder aufgefüllt werden.
Die Senkung der landwirtschaftlichen Produktionskosten erforderte eine kreative Lösung. Überraschenderweise fand sich diese Lösung im Riesenschilf. Anstatt das entwurzelte Riesenschilf wegzuwerfen, erkannte Aktion gegen den Hunger, dass es für wichtige Produktionsmittel wie Silage, Kompost und Futterwürfel wiederverwendet werden konnte. Da Riesenschilf frei und reichlich wächst, ist es eine konstante, kostengünstige Ressource. Als positiver Nebeneffekt wird so das Wachstum von Riesenschilf kontrolliert.

Ibrahim (Mitte) und andere Bauern*Bäuerinnen lernen, wie man Kompost herstellt.
Aktion gegen den Hunger richtete mit Mitteln aus dem Syria Humanitarian Fund sogenannte Farm Field Schools (FFS) ein, um lokalen Bauern*Bäuerinnen innovative, nachhaltige Ansätze für ihre landwirtschaftlichen Herausforderungen zu vermitteln. „Mein Zuhause wurde zu einem Lernzentrum, in dem unsere FFS-Sitzungen stattfanden“, erzählt Ibrahim.
Die Bauern*Bäuerinnen wurden mit Spezialgeräten wie Häckslern und Pressen ausgestattet, um die Riesenschilfpflanzen effizient verarbeiten zu können. „Mit diesen Geräten können wir die Kosten für Futter und Dünger senken und gleichzeitig den Zugang zu biologischen, sauberen Produkten sicherstellen“, erklärt Ibrahim. „Mit der Mühle haben wir etwa zwölf Tonnen Riesenschilf zerkleinert und mehr als vier Tonnen Silage und über sechs Kubikmeter Kompost produziert.“

Landwirte*Landwirtinnen versammeln sich vor Ibrahims Haus zur Farm Field School.
Nach dem Erfolg seines ersten FFS-Kurses war Ibrahim motiviert, weiter zu lernen. Er nahm an vier weiteren Schulungen in der Nähe seines Dorfes teil und erwarb zusätzliche Kenntnisse in Agrarökologie.
Durch die Ausstattung der Bauern*Bäuerinnen mit Werkzeugen und Wissen stellte Aktion gegen den Hunger sicher, dass die Lösungen nicht nur unmittelbar, sondern auch nachhaltig waren. Der gemeinschaftsorientierte Charakter der FFS bedeutet, dass Bauern*Bäuerinnen wie Ibrahim die Führung übernehmen. Sie haben ihre Abhängigkeit von externer Hilfe verringert und können auch in Zukunft selbstständig Einkommen erzielen. Auf diese Weise wurde unser drittes Ziel erreicht und die Grundlage für einen langfristigen, von der Gemeinschaft getragenen Ansatz fest etabliert.

Ibrahim (links) benutzt den von Aktion gegen den Hunger zur Verfügung gestellten Häcksler.
Die Landwirte*Landwirtinnen tauschen nun ihre Fähigkeiten aus, wenden agrarökologische Methoden an und entwickeln neue Ideen. Ibrahim und mehrere andere seiner Kolleginnen und Kollegen erwägen beispielsweise die Einführung eines groß angelegten Projekts zur Herstellung und zum Verkauf von Silage.
Auswirkungen der Erholung des syrischen Ernährungssystems
Der Aufbau nachhaltiger Ernährungssysteme nach einem Konflikt ist mühsam und langsam. Laut dem Wirkungsbericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen wird es bei den aktuellen Wachstumsraten 55 Jahre dauern, bis die syrische Wirtschaft wieder das BIP-Niveau vor dem Konflikt erreicht hat – mit Unterstützung könnte dies jedoch viel schneller gehen. Denn so wie ein Konflikt eine Kettenreaktion von Schäden auslösen kann, kann eine unterstützende Maßnahme wie eine Farm Field School eine Kettenreaktion von Verbesserungen in Gang setzen. Ambitionierte Landwirte wie Ibrahim sind bereit, sich dieser Herausforderung zu stellen.
„Wir sind sehr dankbar für das Wissen und die Ausrüstung, die uns zur Verfügung gestellt wurden. Dieses Projekt hat uns neue Hoffnung und Stabilität gegeben, und wir freuen uns darauf, diese Herausforderungen in Chancen zu verwandeln“, sagt Ibrahim.